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Werkzeug statt Allheilmittel: So holen Unternehmen KI vom Podest in die Praxis

Timo Lamour

Timo Lamour

Intelligente Assistenten, automatisierte Entscheidungen, Content per Klick – KI ist längst Alltag und formt schon heute, wie wir arbeiten, führen und denken. Trotzdem bleiben viele Fragen offen: Wo beginnt der sinnvolle Einsatz, wo endet der Hype? Und welche Haltung brauchen Unternehmen, um das Potenzial der Technologie verantwortungsvoll zu heben? Darüber haben wir mit Sven Krüger gesprochen, früher CMO bei T-Systems und adesso, heute Executive Coach, Berater und Autor des Buches „Die KI-Entscheidung“ (erschienen 2021). Im Interview erklärt er u. a.:

  • warum ChatGPT erst der Anfang ist und wo die wirklich großen Hebel liegen
  • welche Hausaufgaben Unternehmen erledigen müssen, bevor ein erster KI-Pilot Sinn ergibt
  • wie Führungskräfte ihr Ego parken, Teams empowern und den Sprung in die KI-Ära schaffen

1 Du hast nach über 20 Jahren in der Wirtschaft gekündigt, um dich ganz auf deine Tätigkeit als Executive Coach zu konzentrieren. Wie nutzt du KI heute persönlich in deinem Alltag?

Ich beschäftige mich schon sehr lange beruflich mit KI, aber praktisch nutzen konnte man sie als Normalanwender lange Zeit kaum. Aktuell setze ich die großen LLMs vor allem als Sparrings­partner ein: Wenn ich eine Idee habe, lasse ich das Modell z. B. mitdenken und tieferbohren – das können sie sehr gut. Seit Jahren vertrete ich die These: Früher oder später wird jeder Erstkontakt ein Bot-Kontakt sein. Jeder von uns wird mindestens einen persönlichen, virtuellen Assistenten in Form eines Software­agenten haben, der Anrufe filtert, E-Mails beantwortet und alles Automatisierbare übernimmt. Genau dieses Zeitalter beginnt jetzt: Die ersten Leute bauen sich auch schon ihre eigenen Agenten für konkrete Zwecke. Für meinen Alltag als Einzel­unternehmer lohnt sich der Aufwand, komplette Workflows zu automatisieren, im Moment allerdings noch nicht. Natürlich nutze ich wie jeder Smartphone-Nutzer KI auch unsichtbar in vielen Standard­funktionen, aber bewusst arbeite ich hauptsächlich mit den großen Sprachmodellen und kleineren Automatisierungen.

 

2 Dein Buch „Die KI-Entscheidung“ erschien Ende 2021. Welche Entwicklungen im KI-Umfeld haben dich seitdem am meisten überrascht?

Am stärksten hat mich die Geschwindigkeit überrascht, mit der sich alles entwickelt. Ich hatte in meinem Buch unterschätzt, wie schnell die Transformer-Technologie und die daraus entstandenen GPT-Modelle durchstarten würden. Heute tauchen plötzlich Millionen KI-Expert:innen auf, nur weil jeder einen Open-AI-Account haben kann. Man kann das belächeln, aber zugleich freut mich, dass das Thema so breitenwirksam geworden ist, denn genau das war das Ziel meines Buches: mehr Menschen sollen verstehen, was KI ist und was nicht. Ebenso erstaunt mich die Leistungsfähigkeit der Modelle bei der Inferenz, also bei dem, was man fast schon als „Denken“ bezeichnen könnte. Vor drei Jahren hätte kaum jemand prognostiziert, dass wir in so kurzer Zeit solche Ergebnisse erzielen. Dabei rate ich zur Vorsicht mit Begriffen: In Webinaren höre ich oft, man solle Software-Agenten wie echte Mitarbeitende behandeln. Da habe ich eine andere Haltung. Sprache prägt unser Denken; wenn wir von KI sprechen, bekommen die Modelle schnell den Anschein eigenständige Wesen zu sein – das halte ich für irreführend. Gleichzeitig zeigt sich die Qualität dieser Systeme klar daran, wie gut sie menschliche Dialoge simulieren. Du chattest heute mit einem System und kannst nicht mehr sicher sein, ob auf der anderen Seite ein Mensch oder ein Bot ist. Der Turing-Test, über Jahrzehnte kaum zu knacken, ist faktisch erledigt. Das funktioniert auch am Telefon: Wir könnten miteinander sprechen und du könntest nicht mit Sicherheit belegen, dass ich hier wirklich aus Fleisch und Blut sitze.

 

3 In deinem Buch räumst du mit „Hypes und Mythen“ rund um KI auf. Welche Klischees begegnen dir heute noch am häufigsten und wie räumst du damit auf?

Beim Wort Hype denken viele an etwas Vorübergehendes. Bei KI trifft das nicht zu. Sie steht zwar noch am Anfang, aber sie wird die Art, wie wir leben und arbeiten, grundlegend verändern. In 20 Jahren wird vieles unkenntlich anders sein: Arbeitswelten, Gesellschaft und Kommunikation. Den größten Fehler macht, wer das Thema ignoriert. Oft sehe ich aber das Gegenteil: KI wird einfach in bestehende Strukturen hineingedrückt. Irgendjemand soll sich mal schnell kümmern, einen Piloten starten ohne echtes Ziel oder Mandat. Das funktioniert selten. KI zu implementieren, bedeutet einen massiven, oft ungeliebten Change: ein heute tragfähiges Geschäftsmodell muss in ein neues, KI-gestütztes Business überführt oder sogar ersetzt werden. Dafür braucht es in der Regel Teams, die nur daran arbeiten, eng angebunden an das Kerngeschäft und nicht im entfernten „Innovation Lab“. Regelmäßiger, moderierter Austausch verhindert, dass die neuen Ideen Bodenhaftung und den Kontakt zur Realität verlieren. Wie genau der ideale Change-Prozess aussieht, hängt von Branche, Kultur und Personen ab; ein One-Size-Fits-All gibt es nicht.

 

4 Du warnst davor, bei KI Science-Fiction und Realität zu vermischen. Wie können Unternehmen kühlen Kopf bewahren und KI pragmatisch einsetzen?

Das hartnäckigste Klischee ist die Vermenschlichung der Technologie. Viele sprechen über KI, als wäre sie ein Wesen mit eigenem Willen. Ich betone dann immer: Es sind Maschinen, die genau das tun, wofür sie gebaut wurden. Viele Entwickler:innen bauen diese Systeme und die meisten erfüllen schlicht ihren Auftrag – wie ein Auto oder ein Küchengerät. Sobald man von „Skynet“, „Terminator“ oder einer drohenden Super­intelligenz redet, verliert man den Blick für die reale Technik. Das halte ich für gefährlich: Denn vergisst man, dass es Maschinen sind, landet man schnell bei absurden Forderungen – etwa speziellen Rechten für Roboter. Es gibt sogar Projekte, die „das Wohl von Algorithmen“ erforschen. Dagegen positioniere ich mich klar. Wer sich tiefer einarbeitet, merkt schnell: Der Hype der letzten drei Jahre betrifft nur einen kleinen Teil der KI-Welt. Zwar reden alle über Sprachmodelle, doch das Gros der Anwendungen sind klassische Programme ohne jede Sprachkomponente. Wer versteht und nicht vergisst, dass wir es mit algorithmischen Systemen zu tun haben, kann sachlich über Chancen und Risiken sprechen, ohne in Science-Fiction-Ängste abzugleiten.

5 Welche Strukturen, Prozesse und Kompetenzen müssen große und mittlere Unternehmen schaffen, bevor sie ernsthaft mit KI-Projekten starten können?

Aus der Perspektive der meisten Unternehmen ist der erste Schritt häufig, ehrlich zu hinterfragen, „Wer sind wir heute und wer können oder wollen wir morgen mit KI sein? Dazu lohnt ein Blick über den Rand der eigenen Bubble, auch wenn er verunsichert. Danach folgt eine Inventur: Welche Systeme, Daten, Skills und Prozesse existieren? Oft zeigt sich, dass es an Know-how fehlt; also entsteht ein großer Reskilling-Aufwand. Gleichzeitig wuchern Heilsversprechen: „Wenn du nicht sofort KI nutzt, bist du morgen weg.“ Diese FOMO führt zu Aktionismus. Besser ist ein kühler Kopf: Chancen nüchtern prüfen, Zeit und Energie in saubere Grundlagen investieren und externe Expertise holen, statt alle Fehler selbst zu machen. KI ist ein langfristiger Wandel. „AI is ready, are you?“, heißt ein Vortrag von mir, denn die Technologie ist oft schon bereit und verfügbar, doch Organisationen und Menschen sind es häufig nicht; nicht einmal für „normale“ Digitalisierung. Deutschland hinkt da insgesamt immer noch hinterher.

 

6 Auf welche Stolpersteine sind eure Kunden bei adesso bei ihren ersten KI-Projekten am häufigsten gestoßen – und was hat sich bewährt, um diese zu überwinden?

Spezifisch zu adesso kann ich hier gar nicht viel sagen. Oft fehlt den jeweiligen Unternehmen die klare Vorstellung davon, was KI lösen soll. Denn „Wir brauchen KI“ ist kein Ziel. Erst wenn ein konkreter Anwendungsfall existiert, wird aus KI ein Produkt oder eine Lösung mit Namen, Preis, Laufzeit, Features und Haftung. Darum: Zuerst definieren, welche Automatisierung wirklich hilft. Dann prüfen, ob Systeme vernetzbar sind, ob APIs und Datenqualität ausreichen und welche regulatorischen Vorgaben greifen. Ohne verlässliche Datenbasis bringt die beste KI nichts; sie trifft Entscheidungen nur auf Grundlage der eingegebenen Daten. Über Erfolg oder Misserfolg eines Projekts entscheidet am Ende meistens die Unternehmenskultur und das Mindset der Beteiligten — inklusive ethischer Haltung.

 

7 Wie bewertest du aktuell das Spannungsfeld zwischen europäischer Regulierung und der eher marktorientierten Herangehensweise in den USA?

Al­eph Al­pha galt als europäische LLM-Hoffnung; realistisch ist das nicht mehr. Im globalen Vergleich dominieren US- und chinesische Tech-Konzerne, die einzige Ausnahme, die eine globale Rolle spielt, ist SAP. Europa hat zwar Expertise und einzelne Nischen-Erfolge wie DeepL, doch die digitale Infrastruktur wird von US-Plattformen bestimmt. Selbst beachtliche Investitionen wie der Heilbronner KI-Campus der Schwarz-Gruppe sind aus US-Perspektive Taschengeld. Solange wir nicht massiv Kapital, Köpfe und Infrastruktur mobilisieren, bleibt diese Abhängigkeit. Man sieht das auch in unserem Alltag: Alle relevanten Plattformen sind amerikanisch und wenn alle paar Monate eine davon, z.B. WhatsApp seine AGBs ändert, tauchen sofort drei Dutzend Influencer auf, die erklären, wie man nun einen Widerruf formuliert. Dieser Reflex zeigt den Zustand des Digitalisierungs­-Mindsets in Deutschland: Wir nutzen kostenlose US-Tools, fühlen uns ohnmächtig und brüllen „Widerruf!“. Ähnlich bei der DSGVO: Seit sie in Kraft ist, komme ich auf kaum eine Website, ohne erst eine Armada von Disclaimern wegzuklicken. Fällt auch unseren Marketiers nichts Besseres ein? Ich finde das bedauerlich, lasse mich aber nicht entmutigen: Europa bietet hohe Lebensqualität, starke Werte und kann kluge Leute anziehen. Wir brauchen jedoch mehr Geschwindigkeit und mutigere Investitionen, sonst bleiben wir zweite oder dritte Reihe.

8 Dein Keynote-Thema „KI-Ethik – gute und böse Maschinen“ unterstreicht die Bedeutung verantwortungsvoller KI. Welche Schritte empfiehlst du Unternehmen, damit ethische Prinzipien eingehalten werden?

Ethik muss top-down gelebt werden. Das Verhalten der Führung prägt die Unternehmenskultur. Gesetze liefern das Mindestmaß; Ethik geht weiter und orientiert sich an dem, was Gesellschaft als richtig empfindet. Praxis­tipp: Auch Stimmen anhören, die nicht auf der eigenen Profitseite stehen, zum Beispiel Mieter:innen, Patient:innen oder Kund:innen. So erkennt man früh, wo man in eine ethische Grauzone geraten könnte und die Sicht der Anderen zeigt, wie das Unternehmen tatsächlich wahrgenommen wird. Transparente Prozesse, klare Kontrollmechanismen und nachvollziehbare Gleichbehandlung schaffen Vertrauen. Gerade in Deutschland und Europa sind Haftungs­fragen streng geregelt; deshalb funktioniert das in den meisten Unternehmen auch. Die allermeisten Akteure wollen nichts Illegales machen, bewegen sich aber oft unbemerkt in Grauzonen. Ein Beispiel: Man findet in Datenbeständen spannende Korrelationen und denkt sofort „die nutze ich jetzt“. Genau da stelle ich mir als Erstes die Fragen „Darf ich das? Unter welchen Bedingungen? Welche Sicherungen brauche ich?“ In vielen Fällen geht es, aber eben nicht stumpf, sondern erst nach einer sauberen Abwägung – die aber auch schnell gehen kann, denn die meisten Menschen haben schon eine gesunde Intuition, was moralisch „richtig“ oder „falsch“ ist.

 

9 Aus deiner Sicht als Executive Coach: Welche Führungsqualitäten sind in dieser schnelllebigen Zeit mit den rasanten KI-Fortschritten heute wichtiger denn je?

Ich begleite seit Jahren Führungskräfte in technologie­getriebenen Veränderungs­prozessen. Solche Umbrüche passieren heute nicht mehr langsam, sondern über Nacht oder innerhalb von 18 Monaten. Den einen, einzig richtigen Führungs­stil gibt es dabei nicht. Entscheidend sind drei Dinge: erstens Neugier, um offen für Neues zu bleiben; zweitens eine klare ethische Haltung, denn ohne Vertrauen im Team wird es schwer; drittens die Fähigkeit, sein eigenes Ego zurück­zunehmen. Wer zehn Jahre lang erfolgreich etwas aufgebaut hat, ist nicht automa­tisch die beste Person, um es in einer digitalen Umgebung neu zu denken. Manchmal heißt gute Führung, Verantwortung abzugeben und andere nach vorne zu lassen, die in der aktuellen Phase die besseren Antworten haben. Das verlangt Offenheit, Toleranz für neue Ideen und die Bereitschaft, auch liebgewonnene Funktionen loszulassen. Kurz: Die Führungs­kraft von gestern muss nicht zwingend die von morgen sein, kann aber den Wandel steuern, indem sie das richtige Team aufstellt und konsequent vorlebt, wie verantwortliches Handeln aussieht.

 

10 Blick in die Glaskugel: Welche zwei bis drei KI-getriebenen Veränderungen werden den Mittelstand in Deutschland bis 2030 am stärksten prägen?

Ich lege mich bewusst nicht auf genaue Szenarien fest, das kann ich auch gar nicht. Vor drei, vier Jahren hätte ich z. B. vermutet, dass eine AGI (Artificial General Intelligence) erst in 20 Jahren kommen wird. Inzwischen höre ich Prognosen für 2028–2030. Ob es eine oder mehrere AGIs geben wird, ob sie sich zur Superintelligenz entwickeln und ob sie kontrollierbar bleiben – all das ist offen. Bemerkenswert finde ich, dass viele kluge Köpfe wie Geoffrey Hinton, Ray Kurzweil, Elon Musk oder Sam Altman sich öffentlich ernsthaft besorgt dazu äußern. Das ist technologisch faszinierend, aber entscheidend ist meiner Meinung nach etwas anderes, nämlich der gesellschaftliche Zusammenhalt. Die Polarisierung der letzten Jahre beunruhigt mich mehr als jede neue Technik. Denn letztlich entscheiden Menschen, wie Technologie eingesetzt wird. Wir sollten uns daher öfter fragen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und dafür enger zusammenrücken, statt uns weiter spalten zu lassen.


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