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Kirche Digitalisierung: Wie die Transformation der EKD als Großorganisation gelingen kann

Timo Lamour

Timo Lamour

Gottesdienste, Verwaltung, Gemeinschaft – seit der COVID-19-Pandemie findet Digitalisierung in der Kirche in rasender Geschwindigkeit statt. Innerhalb von kürzester Zeit wurden in einer immensen Drucksituation vielerorts digitale Lösungen geschaffen, die zwei Jahre zuvor noch in weiter Ferne lagen. Wir haben mit Dr. Jan Kingreen, Pfarrer des Turms der Potsdamer Garnisonkirche und ehemaliger Geschäftsführer des Berliner Doms, u. a. über

  • die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung in der Kirche,
  • Change Prozesse in einer Organisation mit knapp 19 Millionen Mitglieder:innen,
  • und die Potenziale von KI als sinnvolles Hilfsmittel für Pfarrpersonen

gesprochen.

 

1 Seit dem 1. März 2023 sind Sie Pfarrer am Turm der Potsdamer Garnisonkirche. Was ist Ihre Mission dort?

Wie Sie wissen, leiden die Kirchen unter Mitglieder- und daraus resultierend unter Finanz- und Personalschwund. Die Grundsatzfrage, die wir gerade ergebnisoffen diskutieren lautet: Wollen wir, wie es in den letzten 500 Jahren durchaus erfolgreich war, in jedem Dorf weiter ein eigenes Gebäude oder lieber einzelne größere Leuchtturmprojekte haben? In Potsdam haben wir entschieden, dass wir den Leuchtturmgedanken stärken wollen. Deswegen bauen wir im Moment einen öffentlichen Diskursort um die Themen Frieden und Demokratie auf. Beide Themen sind aktueller denn je. Dabei ist unser Ziel, verschiedene Gesellschaftsgruppen wieder verstärkt miteinander ins Gespräch zu bringen. Aus meiner Sicht bietet sich das sehr gut an, auch weil die Nachfrage für rein kirchlich-religiöse Themen einfach nicht mehr so groß ist, während der Wunsch nach Orten außerhalb der beschleunigten Welt wächst. Schwierig ist, dass die Garnisonkirche in der Vergangenheit auch eine rechtskonservative Militärkirche war. Für uns bedeutet diese Geschichte jedoch nicht, dass wir unsere aufgeklärten Inhalte aus dem 21. Jahrhundert dort nicht unterbringen können. Im Gegenteil: Wo, wenn nicht an diesem Ort?

 

2 Was sind derzeit Ihre 2-3 größten Herausforderungen in Potsdam und welche Rolle spielt die Digitalisierung in Ihrer Kirche?

Die beiden großen Herausforderungen sind auch bei uns: Finanzen und Personal. Geld ist das größte Thema, weil wir z. B. mit einer einzigen angestellten Bildungsreferentin keine breitenwirksame Bildungsarbeit machen können. Und Personal bedeutet in der Kirche vor allem Ehrenamt. Hier lassen sich immer weniger Menschen länger binden und die Organisation ist dazu noch sehr zeitintensiv. Bei der Lösung beider Herausforderungen spielt die Digitalisierung der Kirche eine immer größere Rolle. Beim Berliner Dom habe ich z. B. die komplette Verwaltung digitalisiert und das werde ich hier auch noch machen. Ein digitales Datenmanagementsystem hat damals unsere Arbeitsprozesse deutlich vereinfacht und unseren Personalbedarf reduziert. Auch die Vernetzung der Ehrenamtlichen über digitale Medien hat unsere Kommunikation entscheidend verbessert. Und gerade, wenn ich eine jüngere Zielgruppe mitnehmen möchte, die nicht über 70 Jahre alt ist, muss der Zugang einfach digital sein.

 

3 Die zunehmende Digitalisierung hat große Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Menschen kommunizieren und ihren Glauben leben. Auch die Evangelische Kirche muss sich an diese Veränderungen anpassen. Bedeutet die Digitalisierung für die Kirche nur Chancen oder auch Probleme?

Beides. Eine große Chance in der Digitalisierung der Kirche liegt darin, dass ich Mitglieder mittlerweile durch digitale Angebote viel schneller, einfacher und zielgerichteter erreichen kann. Zweitens kann ich potenziell viel mehr über sie und vor allem auch meine Interessenten und Interessentinnen erfahren und sie mit diesem Wissen noch besser abholen. Natürlich gibt es immer mal wieder Sozialstudien, aber eigentlich wissen wir viel zu wenig über die Menschen, die unsere Angebote konsumieren. Ein Problem auf der anderen Seite ist, dass Change Prozesse bei unserer gesamtgesellschaftlichen Mitgliederstruktur mit einer Altersspannweite von ca. 12-95 Jahren wahnsinnig viel Zeit benötigen. Wenn ich mir vorstelle, wie sich mein eigenes Verhalten seit dem Release des ersten iPhones 2007 verändert hat, halte ich es für unvorstellbar, ohne Smartphone auszukommen. Es hat sich also in den letzten Jahren sehr viel bewegt und es wird sich weiterbewegen. Das müssen wir natürlich berücksichtigen, ohne diejenigen Menschen zu verschrecken, die noch keine ausgeprägte digitale Affinität haben. Denn die Digitalisierung – ob wir als Kirche jetzt mitmachen oder nicht – wird auch ohne uns fortschreiten. Deswegen, denke ich, muss man sich einen Ruck geben und die Dinge anpacken.

 

4 Viele Kirchengemeinden haben Wege gefunden, ihre Mitglieder:innen online zu versammeln. Warum sind gerade Streaming-Angebote und flexible Gottesdienstzeiten für die Evangelische Kirche so wichtig?

Das ist der einzige Segen, den Corona gebracht hat. Am Dom fing alles mit einem Videomitschnitt per Smartphone an und ist dann in wenigen Monaten zu einem Studio mit fünf Kameras und einem dreiköpfigem Regie-Team ausgewachsen. Als wir bei großen Gottesdiensten mit TV-Teams zusammengearbeitet haben, haben die zum Schluss ihre Kameras zu Hause gelassen und nur noch unser Signal verwendet. Noch wichtiger ist allerdings die On-Demand-Verfügbarkeit. Damit unsere Mitglieder z. B. Montagsmorgens nach dem Joggen zu einer ihnen passenden Zeit den gewünschten Inhalt unkompliziert abrufen können. Das ist Gold wert, weil wir so die Wünsche nach Flexibilität einhalten können. Denn ich verstehe total, wenn unsere Nutzer eine größere Selbstbestimmung wollen, bspw. wann sie anfangen oder, dass sie die Möglichkeit haben, direkt zur Predigt oder einem Musikstück vorzuspringen. Außerdem habe ich große Lust unser aktuelles Streaming-Angebot auf unsere Konzerte, Podiumsdiskussionen, Lesungen oder sonstige interaktive Abendveranstaltungen auszuweiten. Wenn wir dann noch in der Lage wären, diese Nutzerdaten datenschutzkonform auszuwerten, könnten wir eine ganz andere und sehr attraktive Feedbackkultur schaffen.

Streaming-Angebot Berliner Dom

 

5 Als Kirchen in Deutschland aufgrund von COVID-19 für mehrere Monate schließen mussten, waren Sie noch Geschäftsführer des Berliner Doms. Inwiefern war die Pandemie für Ihre Kirchengemeinde ein Digitalisierungsbeschleuniger?

Über die Streaming-Angeboten als wichtiger Teil der Digitalisierung von Kirche haben wir ja schon gesprochen. Daneben mussten wir unsere Verwaltung, die noch auf einer Aktenführung von 1970 basierte, unbedingt digitalisieren, weil das Homeoffice plötzlich einen ganz neuen Stellenwert bekam. Das hat unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kurzfristig arbeitsfähig gemacht und mittelfristig für eine unglaubliche Arbeitserleichterung gesorgt. So sind viel mehr Flexibilität und Effizienz in die Tätigkeiten gekommen. Endlich muss niemand mehr rumlaufen und irgendeinen Vorgang suchen, das passiert jetzt alles automatisiert und wir haben natürlich auch Akten-Zugriff von jedem Rechner der Welt aus. Während der Pandemie haben wir notgedrungen einfach angefangen und hatten zum Schluss die letzten 15 Jahre erfolgreich digitalisiert. Ohne Covid hätte es diesen Druck wohl nie gegeben. Damals mussten wir vieles einfach regeln und es hat wunderbar funktioniert. Das hat in mir ein großes Gefühl der Zuversicht ausgelöst.

 

6 Beim Evangelischen Kirchentag wurde der erste, von ChatGPT erdachte und geleitete, deutsche Gottesdienst gehalten. Inwiefern ist KI ein sinnvolles Hilfsmittel für Pfarrpersonen?

Unsere einfacheren Tätigkeiten, z.B. in der Verwaltung kann eine KI schon jetzt deutlich beschleunigen. Bei kreativen Aufgaben, wie z. B. der Vorbereitung einer Predigt bin ich noch zurückhaltend, weil der Datenpool, den ChatGPT nutzt, noch sehr begrenzt ist. Wenn ich die Technik bspw. für Vorschläge für eine Predigt nutze, dann bekommen diese bis jetzt alle einen extrem floskelhaften Sound. Sobald sich die verfügbaren Daten in diesem Bereich allerdings erhöhen, werden sich die Einsatzmöglichkeiten von KI, wie in anderen Branchen auch, schnell vergrößern. Davon bin ich überzeugt. Aber wenn das Tool bisher fast nur auf Jahrzehnte alte Predigten zurückgreifen kann, dann sind die Ergebnisse eher ungenügend, weil z. B. aus der Zeit gefallene Begriffe verwendet werden, die kein Mensch mehr versteht. Ich denke, diese Art der Kommunikation ist einer der größten Gründe, warum weniger Menschen in die Kirche gehen und wir allgemein an Relevanz verlieren. Persönlich habe ich übrigens KI-Tools für Verwaltungs- und Recherche-Aufgaben, z. B. für ein etwas geschichtslastiges Universitätsseminar, bereits erfolgreich eingesetzt.

KI auf dem Evangelischen Kirchentag
Deutschlands erster KI-Gottesdienst in St. Paul in Fürth war komplett digital. Die Inhalte stammten zu 98% von der KI.

7 Die Evangelische Kirche befindet sich mitten im digitalen Wandel. Wie kann dieser Umbruch für so eine große Organisation mit Millionen von Mitglieder:innen gelingen?

Wie bei allen großen Organisationen liegt die Herausforderung bei der Digitalisierung der Kirche in einer gewissen Behördenhaftigkeit. Das gibt im positiven Sinne viel Struktur, aber führt auch zu einer wahnsinnigen Trägheit. Da wir sehr viele Menschen mitnehmen müssen, dauern diese Change Prozesse, wie eben schon gesagt, ziemlich lange. Dabei gibt es erfahrungsgemäß ca. 20% Bremser, aber die große Mehrheit ist meistens sehr offen. Im Moment läuft es so, dass jede Gemeinde in der Kirche eigene Digitalisierungsprojekte macht. Das funktioniert zwar auch. Dennoch ist meine Einschätzung, dass uns etwas mehr zentrale Vorgaben guttun würden. Man könnte z. B. für bestimmte Bereiche der Gemeindearbeit Konzepte erarbeiten und zentrale Teams aufstellen, die dann rumreisen, um die Gemeinden punktuell bei der Umsetzung dieser Digitalprojekte zu unterstützen. Eine ähnliche Initiative von unserer Landeskirche gab es bereits in einem anderen Zusammenhang. Das wurde gut angenommen und läuft immer noch prima. Dabei muss man wissen, dass z. B. die Zentrale der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) oder die 20 Landeskirchen nur Angebote machen können. Diese anzunehmen steht den einzelnen Gemeinden vor Ort aber völlig offen.

 

8 Landeskirchen starten eigene Initiativen, eine deutschlandweite Stabsstelle für Digitalisierung in der Kirche setzt eigene Akzente und ein Digitalinnovationsfonds fördert vielversprechende Projekte. Wie autark und agil sind Sie als Gemeinde bei neuen Projekten?

Wir können sehr autark und agil bei der Digitalisierung unserer Kirche sein, das ist das Schöne an der Evangelischen Kirche. Wir haben als Gemeinde maximale Beinfreiheit. Vorausgesetzt wir können die Finanzierung allein oder mit anderen Gemeinden zusammen stemmen. Es gibt bei uns keine Aufsichtsbehörde im klassischen Sinne. Unser gemeinsames App-Projekt für den Berliner Dom ist da ein gutes Beispiel. Wobei der Berliner Dom trotz Corona und vielen Einbußen natürlich viel schneller bestimmte Summen bewegen konnte, weil er im Vergleich einen ziemlich hohen Umsatz macht. Hinsichtlich der Agilität möchte ich noch erwähnen, dass so eine Gemeinde sehr demokratisch organisiert ist. Das heißt, die Gemeindemitglieder wählen einen Rat und parallel dazu gibt es dann einen Pfarrer bzw. eine Pfarrerin, der oder die mit diesem Rat zusammen die Geschicke der Gemeinde leitet. Dadurch gibt es eine hohe Beteiligungskultur. Aber wenn man diese Strukturen kennt, kann man auch gut damit umgehen.

 

9 Interaktive Online-Plattformen für Jugendliche, digitale Gemeindeverwaltung, Online-Bildungskurse, Kirchen-Apps und Präsenz auf Social Media. Wohin bewegt sich die Digitalisierung in der ev. Kirche in den nächsten Jahren?

Ich glaube die Reise wird ziemlich genau in die von Ihnen beschriebene Richtung gehen. Die genannten Dinge werden noch flächendeckender ausgebaut. Dazu wünsche ich mir, dass wir bei Gottesdiensten und anderen kirchlichen Veranstaltungen die Nutzer und Nutzerinnen interaktiv mitreinholen. Zwei klassische Beispiele für Digitalisierung in der Kirche: Warum soll nicht jemand zuhause ein Gebetsanliegen eintippen, das mir als Pfarrer dann vorne auf dem iPad angezeigt wird? Oder warum sollte in Diskussionsveranstaltungen nicht auch jemand von zuhause eine Rückfrage stellen können? Da will ich hier in Potsdam noch viel mehr hin. Außerdem sehe ich viel Potenzial für Gemeinschaft im digitalen Raum. Das gibt es zwar immer mal wieder, aber es könnte noch viel mehr sein. Da spielen Ressourcen auch wieder eine große Rolle, weil die Moderation z. B. bei Facebook Zeit kostet und anstrengend ist. Auch mit mehr Social-Media-Training könnte aber noch einiges bewegt werden. Ich kenne ein paar Kollegen und Kolleginnen, die regelmäßig bei Twitter oder Insta posten. Das find ich super, gerade weil es so niedrigschwellig ist und man sehr gut neue Zielgruppen erreicht. Aus meiner Sicht wandeln wir uns seit mindestens 20 Jahren von einer Komm- in eine Art Geh-Struktur: Die Leute kommen nicht mehr quasi automatisch in den Gottesdienst, sondern wir müssen digital hingehen. Und ich denke, das wird sich auch nach und nach durchsetzen, weil die existenziellen Fragen von uns Menschen nicht weniger geworden sind, also Religion nicht verschwindet, sondern die Institution Kirche ohne erfolgreiche Digitalisierung an Bedeutung verliert.

 

10 Welche neue Überzeugung oder Gewohnheit hat Ihr berufliches Leben in den letzten 5 Jahren am meisten verbessert?

Die Größte ist sicherlich, dass was wir auch gerade machen – Videomeetings. Das ist so ein Geschenk für mich! Dadurch, dass ich zehn dieser Sitzungen hintereinander mit verschiedenen Leuten deutschland- bzw. weltweit machen kann, spare ich mir sehr viel Zeit. Außerdem beobachte ich, dass meine digitalen Zusammenkünfte viel stringenter und zielführender sind und die Akzeptanz von Online-Meetings auch bei älteren Menschen stark zugenommen hat. Und dann noch die konsequente Einbindung meines Smartphones. Durch den stetigen Zugriff auf meinen Kalender und alle wichtigen Dokumente, Akten usw., kann ich z. B. auf dem Weg von der Kita zur Kirche noch schnell eine wichtige E-Mail beantworten. Dadurch ist meine Vereinbarkeit von Familie und Beruf viel leichter geworden.


Sie möchten mehr über unser gemeinsames App-Projekt mit dem Berliner Dom erfahren? Hier geht es zur Case Study.

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